Besuch aus Estland im Mai

Estnische Lehrerin entdeckt das deutsche Berufsbildungssystem:
Ein Austausch voller Erkenntnisse und Herausforderungen

Im Rahmen eines Erasmus+ Projekts taucht Karin Oinberg, eine estnische Lehrerin, in die Welt der deutschen Berufsbildung ein. Ihr Besuch an der Gutenbergschule Frankfurt offenbart wertvolle, gegenseitige Einblicke.

Für Ende Mai ist es ungewöhnlich kühl und der Himmel über Frankfurt ist mit schweren Wolken verhangen. Früh morgens setzen sich Karin Oinberg aus Estland (mittig im Bild) und Kristin Kreer (links im Bild) sowie Jan Thomczek (rechts im Bild) von der Gutenbergschule Frankfurt für ein erstes Gespräch gemeinsam an einen Tisch. Die nächsten drei Tage werden gleichermaßen spannend, bunt und facettenreich. Aber die Kürze der Zeit wird auch zu einer Herausforderung werden. Eine Mission Impossible?

Aber Moment mal – worum geht es eigentlich?
Karin Oinberg von der Kuressaare Ametikool, einer berufsbildenden Schule in Estland, ist im Rahmen ihres Projekts unterwegs, um das deutsche Berufsbildungssystem kennenzulernen. Dieses Projekt ist gefördert durch Erasmus+ der Europäischen Union, welches den Austausch im Bildungssektor unterstützt. Von allen beruflichen Schulen in Deutschland fiel die Wahl von Karin Oinberg für Ihren Besuch auf die Gutenbergschule. »Ich wollte mir das deutsche Berufsbildungssystem und die dortige Schülerförderung anschauen. Mein Kollege Erik Riige hat sofort an Eure Schule gedacht«, erzählt Karin. Erik, Kristin und Jan haben sich im Zuge des Erasmus+ Projekts DesignSTEM (2016 bis 2019) kennen- und schätzen gelernt. Außerdem gibt es an beiden Schulen inhaltliche Schnittmengen, die einen Besuch interessant machen, denn die Kuressaare Ametikool bietet unter anderem Unterrichte für Motion Graphics Designer, Stylisten, interaktive Grafikdesigner und Grafik-Designer an.

Und was genau ist die Mission?
Der Auftrag ist es, in den drei Tagen ihres Besuchs die Vielschichtigkeit des deutschen Bildungssystems an beruflichen Schulen zu vermitteln. Neben der Organisation der Unterrichte und deren Inhalten stehen die verschiedenen Bildungsgänge im Zentrum: Die Berufsfachschule mit dem Ziel des Mittleren Abschlusses (»Realschulabschluss«), die klassische Berufsschule im Dualen System mit den verschiedenen Berufsausbildungen, die beiden Fachoberschulen für Gestaltung und Medienproduktion mit dem Ziel der Fachhochschulreife sowie die Fachschulen für Drucktechnik und Design, die mit dem »Bachelor Professional«“ abgeschlossen werden können. Begleitend zu diesen Bildungsangeboten sollen Einblicke in die Berufs- und Studienberatung sowie die sozialpädagogische Förderung gegeben werden. Ein umfangreiches Programm.

Eine Reise durch die Gutenbergschule
Kristin Kreer entwickelt für Karin Oinberg eine Art »Stundenplan«: In diesem sind verschiedene Vorschläge geplant, wie die jeweiligen Tage mit Inhalten gefüllt werden können, denn dieses Programm kann nur durch exemplarische Einblicke und mit der Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen durchgeführt werden. Auf diese Weise lernt Karin Oinberg unter anderem die Klassen 12FOG1 (Herr Bachmann), 10BVM1 (Frau Nagel), 12FOM1 (Herr Rigbers) und 11BMG1 (Herr Kopp und Frau Kreer) sowie die beiden 4. Semester der Fachschulstudierenden (Herr Thomczek) kennen. Abgerundet wird der Eindruck durch fachpraktischen Unterricht in der Buchbinderwerkstatt (Herr Döring) und informative Gespräche bei Frau Heil (Berufs- und Studienberatung) sowie Herrn Müller der sozialpädagogischen Förderung.

»Warum sprechen Sie eigentlich so gut deutsch?«
Diese Frage wird Karin Oinberg während ihres Besuchs wohl am häufigsten gestellt. Dann lächelt sie immer und erklärt gerne, dass sie in ihrer eigenen Schulzeit in Estland Deutsch gelernt hat. Anschließend hat sie für ein Jahr als Au-Pair bei einer Familie in Dietzenbach gelebt und gearbeitet. Nun unterrichtet sie in Estland Deutsch als Fremdsprache – im kommenden Jahr auch ihre eigene Tochter, denn diese ist nun im entsprechenden Alter für eine zweite Fremdsprache.

»Ernsthaft? Ihr habt keinen fixen Stundenplan?«
Auch wenn beide Schulen inhaltliche Gemeinsamkeiten haben, so gibt es doch große Unterschiede bei der Unterrichtsplanung. Im Gespräch mit Kristin Kreer erläutert Karin Oinberg wie flexibel man als Lehrkraft an ihrer Schule sein muss und dass das manchmal ganz schön anstrengend sein kann. Während hier an beruflichen Schulen meist für ein Halbjahr, wenn nicht gar ein Schuljahr, vorgeplant wird, Schülerinnen und Schüler sowie Betriebe ganz genau wissen, wann welcher Unterricht stattfindet, so wechselt der Stundenplan an der Kuressaare Ametikool fast wöchentlich mit dem Ziel mehr Flexibilität für Projektunterricht zu haben. Während Kristin davon ziemlich beeindruckt ist und sich nicht vorstellen kann, wie das praktisch umsetzbar ist, wünscht sich Karin mehr von der strikten, deutschen Planung, denn es kann auch passieren, dass sie ihre Klassen zwei oder drei Wochen nicht sieht.

»Das geht in Estland komplett digital und problemlos mit nur einem einzigen Werkzeug?«
Jan Thomczek ist sichtlich beeindruckt, als Karin ihm zeigt, wie einfach und transparent die gesamte Schulorganisation wie Klassenbuchpflege, Notenvergabe, Fehlzeitenberechnung, Unterrichtsgestaltung, Stundenplanung und auch direkte Kontaktaufnahme mit Schülerinnen und Schülern oder deren Eltern über ein Online-Tool funktioniert. »Das machen wir seit über zehn Jahren so. Die Software Tahvel (estnisch für »Tafel«) nutzen auch andere viele andere Schulen, Universitäten, Bildungseinrichtungen und das »Ministry of Education and Research«, erklärt Karin.

Gemeinsamkeiten, Herausforderungen und Ausblick
Am letzten Tag des Besuchs wird es Zeit, ein Resümee zu ziehen. Daher beschließt die Gruppe, nach dem Ende des Schultages gemeinsam essen zu gehen. In Estland und Deutschland stehen das Bildungssystem und die Menschen, die darin arbeiten, vor teilweise sehr ähnlichen Herausforderungen: Bildungsgänge werden abgebrochen, die Gründe dafür sind vielschichtig. Auch die Kontinuität lässt teilweise zu wünschen übrig. Dazu kommen finanzielle Einschränkungen, denn Bildung ist überall ein hohes, aber teures Gut. Hier kommt die Förderung durch Erasmus+ sehr gelegen, denn ohne diese wäre dieser Austausch nicht möglich geworden. Neben den Schwierigkeiten innerhalb der Bildungssysteme lässt sich feststellen, dass die Lösungswege in Estland und Deutschland stellenweise verschieden sind: Beispielsweise sind in Estland Klassengrößen von 12 bis 15 Lernenden üblich. Auch scheinen Organisationsaufgaben einfacher und der bürokratische Aufwand geringer zu sein. Die starke Verbindung zwischen Betrieb und Schule innerhalb des Dualen Systems ist hingegen eine Stärke der Deutschen Bildungslandschaft, die es in Estland in dieser Form nicht gibt. Dort machen Auszubildende mehrwöchige Praktika, aber erhalten ihre Ausbildung hauptsächlich schulisch.

Man hat sich während des Besuchs etwas besser kennengelernt, was ein zentrales Interesse des Austauschprogramms Ersamus+ ist, und nach den letzten beruflichen Fragestellungen wird es nun auch etwas privater. Karin zeigt Bilder aus Estland: Das Haus, in dem sie und ihr Mann wohnen, liegt zwar an der Hauptstraße ihres kleinen Heimatortes – trotzdem befindet es sich idyllisch mitten im Grünen. In der Nähe des Hauses haben die beiden auf zwei Hektar Erdbeerfelder. Karin freut sich ein bisschen auf zu Hause, denn in Estland sind bald die ersten eigenen Erdbeeren reif. Der Abschied ist herzlich und bereits kurz danach wächst das Interesse an einem Gegenbesuch in Estland, denn das baltische Land an der Ostsee hat viele interessante und lehrreiche Facetten zu bieten.

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